Xaver Stich spürt in seiner Kolumne all das auf, was ihm beim Thema Lernen und Bewegung abseitig oder merk–würdig vorkommt. Die Kolumne erscheint regelmäßig in der Zeitschrift „erleben & lernen“ im ZIEL-Verlag, Augsburg.
Gibt es eigentlich noch Bungee Jumper?
Es ist schon ein paar Jahre her, da bekam ich ein Lied, das im Radio ständig rauf und runter gespielt wurde, einfach nicht aus dem Kopf. Der Refrain ging in etwa so: „Life, oh life, oh life, duh dudu duh …“. Das klang in meinen Ohren einige Zeit ziemlich anregend, vor allem, wenn man zwei Wochen nichts anderes macht, als seine Wohnung zu streichen, samt Fenster, Türen, Heizkörper und was sonst noch so im Weg steht. Meine liebste Stelle in diesem harmlosen Liedchen kam in der dritten Strophe. Da heißt es „bungee jumping, I don’t care!“, was mich damals irgendwie beeindruckt hat. Jedenfalls konnte ich dieser an sich dürren Aussage voll zustimmen. Und auch wenn das Lied in den darauf folgenden Jahren immer seltener gespielt wurde – … fast sehnsüchtig wartete ich auf diesen einen Satz und nickte zustimmend, wenn ich mich grad unbeobachtet fühlte.
Mit und ohne Fallschirm
Bungee jumping hat sich ja mittlerweile aus der Riege der angesagten Trendsportarten verabschiedet. Wer als, sagen wir mal, Extremsportler wirklich was auf sich hält, firmiert heutzutage eher als Basejumper, der sich mit einem Fallschirm von Hochhäusern stürzt. Oder er quetscht sich in einen sogenannten Wingsuit, eine Art Flügelanzug, den früher Batman bei seinen Rettet-die-Menschheit-Aktionen getragen hat und segelt steile, nicht ganz senkrechte Bergflanken hinunter, um möglichst erst kurz vorm Talgrund die Reißleine seines Fallschirms zu ziehen. Solche Unternehmungen werden oft von Kamerateams eines bekannten Brauseherstellers begleitet, dessen Name in seriösen Zeitschriften wie dieser nicht unbedingt penetriert werden muss. Abseits der bekannten Absprung- und Abspielplattformen geht es natürlich auch eine Nummer kleiner. So erlebt man als eher bedächtiger Mountainbiker von Jahr zu Jahr immer häufiger folgendes Schauspiel: „Downhill-Hooligans“ (O-Ton „Der SPIEGEL“) rasen mit ihren vollgefederten Bikes auf grob verblockten Karrenwegen gen Tal, so dass arglose Wanderer nicht nur die Luft anhalten sondern sich gelegentlich auch mal seitwärts in die Büsche werfen.
In seriösen Zeitschriften („Der SPIEGEL“) wird an dieser Stelle meist die Moralkeule herausgeholt und über die Rücksichtslosigkeit übermütiger Zeitgenossen schwadroniert, was aber hier nicht unser Ansatz sein sollte. Werfen wir stattdessen einen Blick ins jüngste Buch von Gerhard Roth, einem Hirnforscher, der sich immer wieder mit Themen beschäftigt, die ihn eigentlich nichts angehen sollten. Roth nennt die oben beschriebenen Phänomene „Sensation Seeking“ [1] und erklärt die, wenn man so will, Kamikaze-Aktionen der Risikosportler als die typische Ausprägung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Nicht schlecht, oder!
Die Coolsten kommen in die Talkshows
Borderliner! Geht es nicht eine Nummer kleiner? Jugendliche und Erwachsene mit der Diagnose BPS sind emotional extrem instabil, reagieren launenhaft, unkontrolliert, verhalten sich streitsüchtig. Viele verletzen sich absichtlich, werfen so ihr körpereigenes Opioidsystem an, nur um sich zu spüren. Borderliner sind Menschen, die nach Beachtung lechzen, sich ständig selbst belohnen wollen nach dem Motto „Ich will alles und das sofort“!“
Kaum eine Talkshow kommt ohne den obligatorischen Tiefseetaucher, 500-Kilometer-Läufer, Freesolo-Kletterer aus, der dann phrasenreich über seinen Endorphinausstoß schwadroniert. Und alle, alle staunen, wie viel Training, Coolness und Selbstdisziplin der allseits beklatschte Athlet aufbringt, um derartige Leistungen „abzurufen“. Andererseits: Wenn es stimmt, was Gerhard Roth postuliert, dann wären diese besonderen Exemplare der menschlichen Spezies nichts anderes als Patienten mit Persönlichkeitsstörung und einem drastisch erhöhten Suizidrisiko. Eigentlich erschreckend, oder? Aber es muss ja nicht stimmen.
[1] Roth, Gerhard, Strüber, Nicole: Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart 2014, S. 277ff.
aus:
Xaver Stich: Gibt es eigentlich noch Bungee Jumper? In: erleben und lernen. Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 3&4/2015, S. 65
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