Elektrokinder
Die „Kreidezeit“ scheint in der Schule nun endgültig Schnee von gestern zu sein. Aus, vorbei – und kaum jemand sehnt sich nach den unseligen Zeiten, als cordsakkotragende Mathelehrer, begleitet von schrillen Quietschgeräuschen, Schiefertafeln malträtierten. Schuld daran war ein „Bildungsgipfel“, von dem man – keine Kosten und Mühen scheuend – entschlossen in die Zukunft äugte, um nichts weniger als die digitale Revolution in der Schule auszurufen. „Handy-Verbote sind von gestern“ sagte Claudia Bogedan, Schulsenatorin in Bremen und zugleich Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, worauf die Süddeutsche Zeitung umgehend darauf hinwies, dass die Bremer Schülerinnen und Schüler bundesweit an letzter Stelle stehen, leistungsmäßig.
Fünf Milliarden für die Digitalisierung der Bildung
In den beiden Foren dieses Gipfeltreffens, die mit „Bildung für die digitale Gesellschaft“ benannt waren, saßen 13 Personen aus der Politik, zwölf aus der Wirtschaft, drei aus den Gewerkschaften und … tata tata, Tusch: natürlich niemand aus Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung oder Wissenschaft. Man stelle sich vor, es ginge in einem großformatigen Event, in der die Bundeskanzlerin und der Wirtschaftsminister die Grundsatzreden halten, um die Zukunft des Autos und keine Sau aus der Automobilindustrie säße auf dem Podium. Eigentlich nicht vorstellbar. Aber beim Thema Lernen ist offenbar jeder Experte.
Zoomen wir dennoch rein in diese Großveranstaltung und schauen wir uns an, wie Politik und Wirtschaft sich zum Beispiel die Schule der Zukunft vorstellen. Die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka will in den nächsten Jahren fünf Milliarden Euro in die Digitalisierung der Schulen stecken. Da denkt man sich gleich, aha, da bekommt wohl jede Schülerin und jeder Schüler einen Laptop oder ein Tablet. Aber weit gefehlt! Die Devise heißt: „Bring your own device“ oder auf gut deutsch: Die Eltern werden gebeten, Ihrem Sprössling zum Pausenbrot noch einen Laptop oder ein Tablet in den Schulranzen zu packen. Als ich das las, ging bei mir gleich das Kopfkino los: Zu meinen Schulzeiten war es nicht unüblich, dass man als notorisch gelangweilter Schüler unter der Bank Perry Rhodan-Romane las. Nebenbei: Perry Rhodan ist übrigens der Urgroßonkel von Luke Skywalker und wird sogar vom Rechtschreibprogramm von MS Word erkannt. Romanlesen unter der Bank ist fürderhin komplett von gestern und außerdem nicht mehr notwendig, denn das Tablet steht unschuldig auf der Bank. Mal schnell vom YouTube-Video auf Mathe umschalten, wenn der Lehrer durch die Reihen geht, das dürfte kein Problem sein.
Wohin mit dem Tablet während des Sportunterrichts?
Wo werden eigentlich die nicht gerade billigen Endgeräte verstaut, wenn die Klasse in die Turnhalle wechselt? Okay, kommt sowieso selten vor. Um den Ärger bei einem unerklärlichen Verschwinden von unbeaufsichtigten Geräten zu vermeiden, richtet man halt einige Hundert Schließfächer ein. Der Hausmeister ist dann gut beschäftigt, wenn täglich Dutzende Elektrokinder ihre Schlüssel dazu nicht mehr finden. Schwierig könnte es werden, wenn wieder mal der Banknachbar nervt. Zu meiner Schulzeit hat man dann, vor allem, wenn man die Nacht zuvor auf der Boxerzeitung geschlafen hat, dessen Federmäppchen mit Schwung auf den Boden gepfeffert, was mitunter dazu führte, dass sich einige Buntstifte in ihre Einzelteile zerlegten. Was schmeißt nun künftig Kevin, wenn er wieder mal genervt ist, schwungvoll in Richtung Erde? Richtig: das Tablet von Pascal, dem Banknachbar, was anschließend einige Rechtsanwälte beschäftigen wird.
Aber wenden wir es zum Ende unserer kleinen Kolumne positiv: Mit dem flächendeckenden Einzug von Smartphone, Tablet und Laptop in die Schule kann der ungeliebte Wandertag ebenso ad acta gelegt werden wie der Besuch von Kunstausstellungen und Museen. Ob Naturfilme, Van Gogh, Picasso oder Planetarium – gibt es alles auf YouTube.
aus:
Xaver Stich: Elektrokinder In: erleben und lernen. Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 1/2017, S. 40