Xaver Stich spürt in seiner Kolumne all das auf, was ihm beim Thema Lernen und Bewegung abseitig oder merk–würdig vorkommt. Die Kolumne erscheint regelmäßig in der Zeitschrift „erleben & lernen“ im ZIEL-Verlag, Augsburg.
Was sagt Wikipedia zur „bewegten Pädagogik“?
Wenn ich wissen will, ob es nun Franzosen oder Engländer waren, die Anfang des letzten Jahrhunderts Schiiten, Sunniten und Kurden zum Kunstgebilde Irak „vereinigten“, dann schau ich in Wikipedia. Eben diese Online-Enzyklopädie bemühe ich auch, wenn es mich umtreibt, was Jack Bruce nach dem Ende von Cream so gemacht hat. Für die jüngeren Semester: Jack Bruce war kein Patissier, sondern der geniale Bassist einer legendären Rockband der 1960er Jahre. Ja, Freunde, so lang ist das her … Über solche Fragen gibt Wikipedia befriedigend Auskunft. Aber was ist, wenn es mich mal wieder überkommt, in tiefere pädagogische Schichten vorzudringen? Schauen wir also mal testweise ins Innere von Wikipedia und tippen „Erlebnispädagogik“ in die Suchmaske. Was passiert? Am Bildschirm erscheinen immerhin gut 13 Seiten Text. Manches davon ist gut gegliedert, ordentlich formuliert und dazu noch stimmig. Anderes dagegen ein ziemliches Geschwurbel.
Die üblichen Verdächtigen
Unter „Geschichte“ werden erstmal die üblichen Verdächtigen aufgelistet: Jean-Jacques Rousseau, Henry David Thoreau, John Dewey und Kurt Hahn. Wenn man dann zur jüngeren Geschichte, „1945 bis heute“ runterscrollt[i], wird es allerdings ein bisschen eigenartig. Da hätte der „damalige Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Hennig von Ondarza (…) eine Erlebnisorientierte Ausbildung (EOA)“ „befohlen“ (sic!). Zwei Absätze weiter räumt der namentlich unbekannte Autor dieser Zeilen ein, dass „die Realisierung des Programms“ wegen der „Wiedervereinigung und Zusammenführung der deutschen Streitkräfte“ leider „verdrängt“ wurde. Kurz, es gab ein Programm, nur wurde dieses nie umgesetzt. Dass es bei Wikipedia trotzdem knapp die Hälfte des Textes über die Geschichte der Erlebnispädagogik nach 1945 einnimmt? Geschenkt. Wir wollen hier nicht kleinlich sein.
Eigentlich ist mir eine besonders enge Beziehung zwischen dem Militär und der Erlebnispädagogik nie aufgefallen, wenn man von einigen wenigen Polemiken in den 1980er Jahren absieht und die paar versprengten Rekruten außen vor lässt, die sich nach ihrem Militärdienst als Trainer unter freiem Himmel versuchten. Aber bei Wikipedia haben sich die Freunde des Kriegshandwerks offenbar richtiggehend eingenistet. So lernt man beim Begriff „Outdoor-Training“, ebenfalls unter dem Absatz „Geschichte“, dass diese Trainings „in den 20er Jahren (…) im Rahmen der ‚Psychotechnischen Eignungsprüfungen‘ bei der Auswahl von Offiziersanwärtern der Reichswehr (…) und später auch von der Wehrmacht eingesetzt“ wurden.[ii]
Irgendwann zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg
Drei Absätze weiter steht dann zwar, dass „die ersten Outdoor-Trainings zu Beginn der 1980er Jahre durchgeführt“ wurden. Also wann nun? Aber egal. Beim flüchtigen Leser hat sich jedenfalls bereits ins Gehirn eingefräst, dass Outdoor-Trainings auf die Reichswehr zurückgehen – unter Hindenburg wird man sie wohl ausgeheckt haben und unter Hitler waren sie halt nicht mehr zu stoppen. Wird schon so stimmen. In der Literaturliste findet man übrigens ausschließlich Titel deutscher Verlage. Dass es in angelsächsischen Ländern spätestens in den 1980er Jahren fast schon zum Standard gehörte, Teams aus Unternehmen im Freien zu trainieren, bleibt Wikipedia-Lesern gänzlich verborgen.
Doch zurück zum Stichwort Erlebnispädagogik. Nach Wikipedia eine vor allem im deutschen Sprachraum gebräuchliche pädagogische Methode mit militärischem Einschlag, bei der vor mehr als hundert Jahren mal ein Franzose (Rousseau) und zwei Amerikaner (Thoreau, Dewey) ihre Finger im Spiel hatten. Das ist vielleicht ein bisschen verkürzt, aber der flüchtige Leser könnte schon auf diese Idee kommen. Wir wollen aber fair bleiben: Über weite Strecken sind die Texte wirklich ordentlich … – aus der einschlägigen Fachliteratur abgeschrieben worden. Wem der Weg in die Bibliothek zu lang oder zu beschwerlich ist, kann sich also mit Wikipedia behelfen. Ich für meinen Teil schau weiter gern in das Online-Lexikon. Vor allem, wenn es um den Irak, Jack Bruce und die Rockband Cream geht.
[i] Stichwort „Erlebnispädagogik“ IN: Wikipedia
[ii] Stichwort „Outdoor-Training“ IN: Wikipedia; beide abgerufen am 27.02.2016
aus:
Xaver Stich: Was sagt Wikipedia zur „bewegten Pädagogik“? In: erleben und lernen. Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 2/2016, S. 31