Xaver Stich – die Kolumne

Georg Kerschensteiner war Anfang des 20. Jahrhunderts Münchner Stadtschulrat und gilt heute als bedeutender Vertreter der Reformpädagogik. Er sagte mal, dass Bildung das ist, was übrig bleibt, wenn man alles Gelernte wieder vergessen hat. Das ist so ziemlich genau das Gegenteil dessen, was man in diesen Tagen aus den Kultusministerien so vernehmen kann. Da geht es um den vielen Stoff, der wegen dieser schlimmen Seuche nicht eingetrichtert werden kann, dass die Wisssensmast nicht funktioniert, wie sie funktionieren sollte, dass ein ganzer Jahrgang durch den Rost fallen würde. Nun gut, das wird – regional unterschiedlich – in den Stehsätzen der Bildungsbürokraten etwas anders formuliert. Aber gemeint ist es schon, wie hier vorgetragen.

Digitalisierung ist nicht alles

Es ist ja nicht so, dass man sich seit März 2020 keine Gedanken zum bis dahin vorherrschenden Präsenzunterricht gemacht hätte. Aber sind das auch die richtigen? Homeschooling, digital gestützter Fernunterricht, Wechselmodell oder verlängerte Ferien mit verschärften Hausaufgaben? Sind das wirklich die Alternativen zum Schulbankdrücken, das man immer noch als den Königsweg des Paukwesens betrachtet? Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen, aber auch Lehrer*innen-Verbände und die Gewerkschaften beklagen unisono, dass jedes Bundesland je nach Schultyp und Gusto der Verantwortlichen Regelungen trifft, die entweder unverständlich oder zu spät kommuniziert oder nicht realisierbar und meistens alles zusammen sind. Dazu kommt der immer gleiche Vorwurf, dass man die Digitalisierung der Schulen verschlafen hätte. All das mag ja berechtigt sein, aber trifft das wirklich den Kern des Problems?

Nicht zum ersten Mal beklagen wir in dieser kleinen Kolumne bürokratische Scheuklappen, mangelnde Fantasie und den fehlenden Wagemut der Kultusbehörden und ihrer nachgeordneten Exekutivorgane. Überdies finden Stimmen kaum Gehör, die da fordern, mal über den Tellerrand zu schauen und Schule neu zu denken. Es geht immer nur um zwei Formate: Klassenzimmer oder Kinderzimmer. Dabei kann Lernen auch außerhalb der schulischen oder familiären vier Wände stattfinden, um für genügend Luftraum und Abstand zu sorgen. Warum nicht in den zurzeit leerstehenden Theatern, Museen, Ausstellungsräumen, Kinos, Bürgerhäusern, Messehallen, Sportstadien, Kirchen, Moscheen? Und warum nicht in den Parks, Grünanlagen, Sportplätzen, Wäldchen und Wäldern, in Fluren und Auenlandschaften …? Nein, das geht nicht nur bei gutem Wetter und milden Temperaturen. Die Waldkindergärten und Draußenschulen praktizieren ihr Geschäft ganzjährig, wenn Bauwägen, Forsthäuser, aufgelassene Trambahndepots und Scheunen mal temporär den notwendigen Schutz vor Kälte, Schnee und Regen bieten.

Land der Bedenkenträger

Aber man hört sie schon, die Stimmen, die da warnen: Ist ja alles schön und gut, aber wenn im Museum eine Vase zu Bruch geht, wer zahlt dann? Können denn Lehrkräfte zivil- und auch strafrechtlich belangt werden, wenn sie einen Fehler machen? Und wie ist das mit den versicherungsrechtlichen Fragen? Muss eine Lehrkraft nicht eine staatlich anerkannte Waldgänger*innen-Ausbildung samt Prüfung vorweisen, bevor sie mit ihrer Klasse in den Forst geht? Es ist eben nicht einfach, so mir nichts, dir nichts in einem durchregulierten Land wie diesem, Lernen anders zu denken als vor hundert Jahren. Wobei: Bereits damals gab es die beschriebenen Alternativen!

aus:
Xaver Stich: Wie Schule Lernen verhindert. In: erleben und lernen. Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 1/2021, S. 31

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