Xaver Stich – die Kolumne

Bildungsforschung? – … dann schon lieber ins Kino

Seit gut fünfzehn Jahren kommt auch der eher medienabstinente Zeitgenosse an einem so sperrigen Thema wie der Bildungsforschung nicht vorbei. Schuld daran ist der „PISA-Schock“, der die deutschen Schulen in den Nullerjahren in die Schlagzeilen brachte. Endlich! In zahlreichen Statistiken mit zahllosen Zahlenreihen wurde zwischenzeitlich aufgeschlüsselt, wo sich der bundesdeutsche Durchschnittspennäler zwischen Singapore und der Dominikanischen Republik denn so einsortiert, leistungsmäßig. So richtig schlau wurde man indessen nicht dabei. Denn was sagen uns diese, in zweifelhaften Verfahren gewonnenen Zahlenkolonnen über die deutschen Schulen tatsächlich? Was sagen sie uns über die Kultur, die Atmosphäre, die Lernlust oder Unlust in den Schulgebäuden? Und vor allem: Was, sagen sie uns, nimmt der einzelne Schüler, die einzelne Schülerin mit hinaus ins Erwachsensein?

Keine Angst, ich erliege nun nicht der Gefahr, in eine kulturpessimistische Endlosschleife einzubiegen. Ich verweise auch nicht auf die inzwischen berühmten blinden Flecken der PISA-Studien. (Nur zur Erinnerung: es sind Körper, Gemeinschaft und Emotionen.) Nein, ich wähle einen eher unkonventionellen Zugang zu den höchst unterschiedlichen Verlaufsformen des deutschen Schulwesens: einen, oder besser mehrere Kinobesuche. Schuld an diesem etwas verqueren Einstieg war das „DOK.fest München“, also das internationale Dokumentarfilm-Festival, das in meinem Terminkalender Jahr für Jahr einen vornehmen Platz einnimmt. Im diesjährigen Festival liefen überproportional viele Filme, die sich im weiteren Sinn mit Erziehungs- und Bildungsthemen beschäftigen. Und diese Filme gaben einen tieferen Einblick in die schulische Wirklichkeit, als die meisten empirischen Studien zur Bildungsforschung dazu in der Lage wären. Drei der Filme seien hier kurz vorgestellt:

„Auf meinem Weg“

Der Film „Auf meinem Weg“ begleitet eine Waldorf-Schulklasse in der oberbayerischen Provinz. Dieser letzte Teil einer Trilogie zeigt den Schulalltag der siebten und achten Klasse. Es wird geradezu ein Feuerwerk an Projekten abgebrannt: vom Gemüsegarten über klassisches Handwerk, Theaterspiel, gemeinsames Musizieren bis zur Überquerung der Alpen, aufgeteilt in acht Schuljahre. Überrascht hat mich, dass in einer Klasse mit gefühlt fünfzig Schülerinnen und Schülern keine einzige Migrationsbiografie auszumachen ist. Charismatisch die Lehrerin, deren gütig-penetrante Strenge nach ein paar Jahren gehörig auf die Nerven gehen dürfte. Volle acht Jahre dieselbe Lehrerin. Das kann man, muss man aber nicht mögen. Bei der Filmpremiere sitze ich zwischen lauter Waldorflehrern und -schülern, die sich in ihrer Birkenstockhaftigkeit gar nicht mehr einkriegen vor lauter Begeisterung. Vor der anschließenden Podiumsdiskussion verdrücke ich mich lieber.

„Berlin Rebel High School“

Das Kontrastprogramm dazu ist der Film „Berlin Rebel High School“. Seit 1973 existiert dieser recht anarchische Schulbetrieb, in dem im Zweiwochenturnus die Schüler gemeinsam mit dem „Lehrkörper“ die Entscheidungen treffen. Es gibt weder Noten noch Anwesenheitspflicht. Innen wirkt die Schule wie ein frisch lackierter Totalschaden. Was andernorts als Schulstunde firmiert, findet hier schon mal im Schrebergarten eines Lehrers statt, der – wie im Film eingeblendet – zum Stundenlohn von 12,50 Euro wacker und durchaus launig das Gegenteil des Paukers gibt. Einfach rührend, wie vor der Abiturprüfung generationsübergreifend geknuddelt wird. Und immerhin drei der vier Schüler, denen der Filmemacher auf den Fersen blieb, schafften das Abitur dann auch tatsächlich.

„Zwischen den Stühlen“

Mit welchen emotionalen Schwitzkästen und disziplinierenden Daumenschrauben man als Referendar fertig werden muss, das zeigt der dritte Film mit dem Titel „Zwischen den Stühlen“. Drei Referendare reiben sich auf zwischen dem Pseudo-laissez-faire der vorgesetzten Seminarlehrer und den gnadenlosen Austestversuchen renitenter Schulklassen. Als Kinobesucher gerät man unversehens in ein emotionales Wechselbad aus Fassungslosigkeit, purem Entsetzen und peinlich berührtem Fremdschämen. Am schlimmsten waren die Feedback-Gespräche, in der die Referendare behandelt wurden wie Dreijährige, die mal wieder eingenässt haben.

Statt eines Fazits an dieser Stelle nur eine schnöde Selbsterkenntnis: Man muss nicht unbedingt in einen Horrorfilm gehen …

aus:
Xaver Stich: Bildungsforschung? – … dann schon lieber ins Kino. In: erleben und lernen. Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 3&4/2017, S. 66

 

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