Xaver Stich – die Kolumne

Als vor hundert Jahren in Bayern die Revolution ausgerufen wurde, genauer gesagt, die Räterepublik, wollte man unter anderem ein „Freigeld“ einführen, das sich im Laufe der Zeit selbst entwertet und damit Spekulation und Zinswucher verhindert. Ja, es wurde am laufenden Band über Dinge nachgedacht, die heute entweder abstrus oder revolutionär anmuten. Zum Beispiel in der Bildung: Abgeschafft werden sollte das Zölibat für Lehrerinnen! Ja, richtig gelesen: Frauen sollten entweder an den familiären Herd oder, wenn sie schon unbedingt einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen, nicht heiraten. Da diese Kolumne des Öfteren nicht besonders gendermainstreamig daherkommt, wollen wir diesen Punkt nicht weiter vertiefen. Dass die Prügelstrafe schon damals abgeschafft werden sollte, ist ja eigentlich erstaunlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieselbe mehr als fünfzig Jahre später noch durchaus zu den gängigen Mitteln der „Aufzucht“ gezählt hat. HilfserzieherInnen sollten „verwahrloste“ Schüler (sind eh meistens Buben, deshalb lassen wir an dieser Stelle das große I) auf den rechten Weg bringen. Hausaufgaben wollte man auf das Notwendigste reduzieren. In den Ausführungsbestimmungen heißt es hierzu: „Häusliche Schulaufgaben sind eine Prämie für die Faulheit der Lehrer.“ Gerhard Schröder hätte sich, gemäß seinem legendären Ausspruch über die „faulen Säcke“, sicher wohl gefühlt in der Riege der Räte. Und weiter geht es nicht minder erstaunlich: „Die Kinder sollen sich auch während des Unterrichts frei und ungezwungen bewegen. Es schadet gar nichts, wenn sie sich einmal eine Zeitlang nicht am Unterricht beteiligen, sich anders beschäftigen.“[1] Zudem wolle man die Fächer Zeichnen und Turnen betonen, Schulbänke abschaffen und neue Lehrbücher herschaffen.

 

Gesamtschule im Jahr 1919

Geplant war ein Schulrat, bestehend aus gewählten Lehrern, Schülern, Eltern und Delegierten des Arbeiter- oder Bauernrats, der über „ernstere Disziplinarstrafen“ entscheidet.[2] Die Kreisschulinspektoren und Schulräte sollten abgelöst und durch geeignete Kräfte ersetzt werden – eine Maßnahme, die auch heutzutage einen gewissen Charme verströmt. Natürlich waren die bayerischen Revolutionsräte schon damals für eine Gesamtschule. Und auch die Ausbildung der Lehrlinge wollte man reformieren: In den Handwerksbetrieben sollte eine Lebensgemeinschaft von Meistern, Schülern und Lehrern den Einstieg in den Beruf erleichtern.

Verantwortlich für all‘ die kühnen Vorhaben war der Anarchist und Sozialist Gustav Landauer, der in der neu ausgerufenen Räterepublik als „Volksbeauftragter für Erziehung und Unterricht“ eine Haltung offenbarte, die man sich heute von manchen Bildungspolitikern wünschen würde: „Wir müssen (…) dafür sorgen, daß unser etwas eingerostetes nicht bloß Denken sondern auch Fühlen, daß unsere Empfindung und unser Geist rege und beweglich wird, daß wir die wahrhafte Bildung gewinnen, die nicht ein Besitz ist, auf dem wir sitzen, sondern ein Werden. Ein Immerweiterwachsen, ein Jungsein.“[3]

 

Die Münchner Räterepublik

Um das alles einzuordnen, muss man wissen, dass die Münchner Räterepublik eine sehr kurze Episode war. Nach der Ermordung von Kurt Eisner, dem ersten bayerischen Ministerpräsidenten wurden die Konterrevolutionäre erst einmal in die Flucht geschlagen und eine Gruppe von, sagen wir mal, Visionären und Freigeistern kam an die Macht. Die bayerischen Revolutionen 1918 und 1919 waren allesamt weitgehend unblutig verlaufen, um so blutiger verlief dann die Machtübernahme durch die „Weißen Truppen“. Gustav Landauer wusste was auf ihn zukommt: „Jetzt geht’s in den Tod, man muß nun den Kopf hochhalten.“ sagte er, bevor er verhaftet und noch am selben Tag erschossen wird.

[1] Weidermann, Volker: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen. Köln 2017

[2] Leder, Tilmann: Die Politik eines „Antipolitikers“. Eine politische Biographie Gustav Landauers. Lich (Hessen) 2014

[3] Ebd., S. 767

aus:
Xaver Stich: Gustav Landauer – Visionär und Freigeist. In: erleben und lernen. Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 1/2018, S. 33

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